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Du bist AKTIVIST!

Du bist AKTIVIST!

AKTIVIST

Neulich blieb meine Aufmerksamkeit an einem Gedankenfetzen hängen. Ein Schnipsel wie das abgerissene Stück eines Plakats das zu lange im Regen hing und sowieso von niemanden mehr beachtet wurde. Kennt man ja von früher, diese einsamen Plakatwände. Nun ja, auf dem Schnipsel stand AKTIVIST. Was für ein Powerwort. AKTIVIST!

Lass uns mal auf die Gesellschaft gucken, Society watching von weit oben. Wir klettern in einen Helikopter und steigen auf bis alles glasklar vor uns liegt. Keine Statistik, keine Schminke sondern das wahre Leben, verschissen klar. Und dann hätte ich eine Frage an dich. Eine Frage nur: Wo bist du?

Menschen mit einer Behinderung gehören zu einer 10-Millionen-Minderheit. Irre oder? Handicaps, unterschiedlich schwer, unterschiedlich sichtbar. Und wenn du mit deinem Rollstuhl, deinem Rollator oder deinem Blindenstock irgendwo auftauchst, bist du AKTIVIST. Du selbst stehst für etwas extrem Wichtiges und bist selbst ein so unglaublich wertvolles Statement. Du trittst für die Belange behinderter Menschen ein, weil du dir Stellenwert und Bedeutung gibst und da bist. Präsent und ganz du. Du bist AKTIVIST.

Du sagst, was dir wichtig ist, was du brauchst, wie du es gerne hättest. In der Gesellschaft, in deinem Leben, du mit deiner Behinderung. Und auch, wenn du andere damit nervst oder überforderst, raus damit! Wie oft bist DU genervt, überfordert? Schau dich mal um in deiner Familie, in deinem Freundeskreis, an deinem Arbeitsplatz, in deiner Nachbarschaft. Wie viele Menschen ohne Behinderung haben schon so fantastisch viel von dir gelernt? Sind geradezu selbst zu AKTIVISTEN geworden. Ist es nicht richtig cool, bisweilen rührend, dass plötzlich Menschen in deinem Umfeld auf Barrierefreiheit achten und diese wehement einfordern? Macht es dich nicht auch stolz, wenn deine Freunde wissen, was Inklusion bedeutet und sich dafür stark machen? Du bist AKTIVIST. Gut so! ✊?

Barrierewas?

Barrierewas?

Barrierefreies Bad

Schwäbische Provinz, 20 Uhr. Nach dreistündiger Anreise stehe ich mit einer Reservierungsbestätigung für ein barrierefreies Zimmer an der Hotel-Rezi, als mir die verwunderte, peinlich berührte Spätschicht erklärt, das Haus verfüge über keines solcher Zimmer. Uff!! Wie sagt man immer so schön: Das hatte ich auch noch nicht!

Was  war passiert? Vermutlich hatte mir eine sehr freundliche aber ahnungslose Aushilfe ein Zimmer bestätigt, das es gar nicht gibt. Und weil Behinderung nicht gleich Behinderung ist, hat das in der Vergangenheit wahrscheinlich auch mal funktioniert. Muss ja nicht gleich ein Rollstuhlfahrer kommen, der wirklich behindert ist.

Wer hier und da mit Hotels zu tun hat, weiß wie es um die Barrierefreiheit 2017 in Deutschland bestellt ist: sehr arm!
(Besagtes Hotel verfügt übrigens über 163 (!) Zimmer – keines davon barrierefrei.)

Zuhause ist natürlich auch nicht immer alles barrierefrei aber man kennt sich aus und kann sich arrangieren. Das Programmkino legt eine Rampe über sie beiden Stufen am Eingang oder beim Italiener kannst du über die Terrasse rein. So ist vieles machbar.

Hotelbetriebe könnten mit gutem Beispiel vorangehen. Lösungen anbieten statt immer nur auf Probleme zu verweisen: Altbau, zu teuer, kein Bedarf … Das Argument kein Bedarf ist an Hohn kaum zu überbieten.

Vor allem sollten sich Hoteliers endlich ernsthaft mit der Thematik Barrierefreiheit auseinander setzen und ihre Angestellten anständig briefen. Als Hotelgast mit Behinderung treffe ich flächendeckend auf eine fundierte Ahnungslosigkeit. Was habe ich nicht schon alles von der beherbergenden Zunft gehört? Hier die Top 5 der ahnungslosesten Antworten:

5 – Unser Haus ist nicht so richtig behindertengerecht aber andere Rollofahrer (Rollo!) haben sich bei uns schon sehr wohl gefühlt.

4 Das Zimmer ist sehr wohl behindertengerecht – nur nicht für Rollstuhlfahrer.

3 – Ach, Sie benötigen einen Aufzug? Wir haben zwar einen Lift, der ist aber meistens defekt. Könnten Sie im Notfall auch die Treppe benutzen?

2 Bei uns ist alles barrierefrei. Am Eingang ist eine 15 cm hohe Stufe, wenn Sie Probleme haben helfen wir gerne, es kommt dann jemand raus.

1Äh … barrierewas?

Ok, es gibt auch wirklich richtig gute barrierefreie Hotels. Häuser, in denen du dich einfach wohl fühlst. So, wie es für alle Gäste ohne Behinderung grundsätzlich üblich ist. Aber machen wir uns nichts vor, das sind immer noch Ausnahmen. Viele Gaststätten- und Hotels ignorieren die Belange behinderter Gäste weitgehend.

Können wir etwas tun? Jaaa! Unbequem sein, nachfragen und Menschen sensibilisieren. Starte in einem nicht barrierefreien Hotel/Restaurant eine Terminanfrage: Samstag im Mai, Familienfeier ca. 80 Personen, Abendessen, ca. 8-10 Übernachtungen. Frage ob ein Rollstuhlfahrer zurecht kommen würde: Ebenerdiger Eingang, Rollstuhl-Toilette, barrierefreies Zimmer…
Oh, nicht ganz barrierefrei? Das ist aber schade. Hm, dann muss ich mich leider anderweitig umsehen. So Schade …

Barrierefreiheit 2017 in Deutschland. Das unsägliche Bundesteilhabegesetz (und die teilweise absurde Debatte darum) hat verdeutlicht, wie weit politische Entscheidungsträger von der Lebenswirklichkeit der Betroffenen entfernt sind. Wer ernsthaft glaubt, diese soziale Bankrotterklärung sei die Umsetzung der (sechs Jahre alten) UN-Behindertenrechtskonvention in nationales Recht, macht sich lächerlich. Zum Kotzen lächerlich!

Der Dämon ist mein bester Kumpel

Der Dämon ist mein bester Kumpel

Nach sieben Jahren bekomme ich einen neuen Rolli. Als ich mir neulich meinen in die Jahre gekommenen Kumpel nochmal so ansah, kam mir das in den Sinn.

Neulich erzählte mir jemand, er sei bei einem Unfall haarscharf am Rollstuhl vorbeigekommen. Joh, da saß ich so vor ihm und es entlockte mir ein ernst gemeintes „zum Glück“.

Rollstuhl fahren ist gegenüber Laufen (ohne Handicap) irgendwie scheiße. Aber machbar … gut machbar.

Machen wir uns nichts vor, der Rollstuhl ist das Symbol für Behinderung und wahrscheinlich schaudert es vielen Menschen, wenn Sie an einen Rollstuhl denken. In meiner Kindheit habe ich Erwachsene sagen hören: Ich würde mich erschießen, wenn ich in den Rollstuhl müsste. Stammtischgeschwafel!

Ok, heute würde man nicht mehr unbedingt sofort zur Waffe greifen. Die Gesellschaft hat mittlerweile mehr Menschen mit Behinderung – und hier besonders gut sichtbar, Rollstuhlfahrer – aufgenommen und (Wunder!!) verkraftet. Menschen mit einer Behinderung gehören in die Gesellschaft – nicht an den Rand, sondern mitten rein. Diese aktive, sichtbare Teilhabe ist die Grundlage für ein offenes, inklusives Mindsetting.

Rollstuhlfahrer sind vielen Menschen dennoch fremd. Nicht selten ist der  Rollstuhl für Menschen, die ihn nicht brauchen, etwas fürchterliches, ein Dämon. Leck mich am Arsch, was nervt mich das! Es ist erstaunlich, wie viele beschränkte Kleingeister es gibt, die es nicht auf die Kette bekommen, offen zu denken. Sich mit neuen Themen auseinandersetzen, das ist clever! Neue Sichtweisen, Perspektiven kennenlernen, erleben, erfahren.

Der Rollstuhl lässt mich Dinge tun, die ich ohne ihn nie könnte. Er ermöglicht mir die Teilhabe an Gesellschaft und Beruf. Klingt abgedroschen? Mag sein, ist aber ohne Wenn und Aber existentiell. Der Rolli ist dabei mein bester Kumpel und treuester Begleiter, lässt mich an Seminaren teilnehmen, Vorträge halten, fotografieren, um die Welt reisen und mich mit Freunden treffen. Und auch wenn es sich bescheuert anhört, manchmal bin ich einfach froh einen bequemen Sitzplatz zu haben.

Nun trenne ich mich von meinem Kumpel

Nein, ich war nicht zur Wunderheilung in Lourdes. Ein neuer Rolli ist fällig, nach sieben Jahren ist meiner einfach verschlissen und passt nicht mehr so, wie er sollte. Ich freue mich natürlich auf den neuen Rolli, den alten mustere ich jedoch tatsächlich mit einer Träne im Knopfloch aus.

Ja, es wird so langsam Zeit, mich von einem treuen Weggefährten zu trennen. Sieben Jahre lang hat er mich  (Achtung Wortspiel) auf Schritt und Tritt begleitet. So bereisten wir die Welt von St. Petersburg über Stockholm und Helsinki bis Miami und mehrfach New York. Wir ließen uns die Gischt am Strand der Bermudas um die Nase hauen, holperten über das mittelalterliche Kopfsteinpflaster in Rom oder flanierten über die sagenhaft schöne aber tief traurige Strandpromenade von Nizza.

Der Rolli ist also kein Übel sondern etwas ganz und gar Wertvolles! Ich freue mich, das ich ihn habe und er mir zu Diensten ist. Über die Frage, ob es nicht besser sei, gar keinen Rollstuhl gebrauchen zu müssen, denke ich nicht nach. Warum auch?